62| MAGAZIN Inside Lissie Rettenwander Offi cial Heart of Noise Edition 01 Download 6 Euro Record/Vinyl 18 Euro CD momentan ausverkauft http://lissierettenwander.bandcamp.com CD - Neuerscheinungen Wüsten Marcel Zaes Tonus-Music-Records P.O. Box 5905, 3001 Bern, Schweiz Order-No TON 045 Preis: CHF 20.– www.tonus-music-records.com Intime Klangwelten Lissi Rettenwander legt mit „Inside“ ihre erste CD vor Abstrakte Landschaften Marcel Zaes „Wüsten“ für Quintett und Elektronik Das erste, was man hört, ist der unbegleitete Gesang einer ein- zelnen Frauenstimme: eine schlichte, klar intonierte melodi- sche Wendung, die sich mit jeder Wiederholung hin zu einem mehrstimmigen A-Capella-Chor auffächert und den Klangraum weit öffnet. Die Stimme, die mittels digitaler Audiotechnik ver- vielfältigt wurde, gehört Lissi Rettenwander. „Inside“ lautet die erste Nummer ihres gleichnamigen Solo-Albums, eine Reise in das „Innere“ einer ausgesprochen persönlichen Klangwelt. Die Intimität setzt sich auch in den anderen Tracks der CD fort, bereits erkennbar in der Wahl der Titel wie „Home“, „Absent Song“ oder „Air“. Rettenwander verharrt jedoch nicht in einer einsiedlerischen Innerlichkeit, sondern schlägt stilistisch ei- nen weiten Bogen mit starken Kontrasten, die die Gesamtdra- maturgie des Albums prägen. So folgt nach dem traumwand- lerischen Vokal-Intro ein harter Schnitt. Nähmaschinenartig ratternden Soundclips, die im stereophonen Raum verzerrt widerhallen, prägen die zweite Nummer („Work“). Bereits an dieser Stelle lassen sich zwei konträr gegenüberstehende Pole ihrer musikalischen Ästhetik ausmachen: die unmittelbare Schönheit des puren Vokalklangs auf der einen und die herbe Coolness elektronisch-instrumentaler Klangerzeugung auf der anderen Seite. Die Stimme stellt Rettenwanders „Hauptinstrument“ dar. Be- reits als Kind sang die Tirolerin im Kreise ihrer Familie und lernte das Zitherspiel. Parallel dazu fand die Künstlerin Gefal- len an Punk und Hardcore, musizierte in Bands und beteiligte sich immer wieder an Improvisationsprojekten. Die Inspira- tion bezieht sie aus dem Spannungsfeld zwischen Tradition, Popkultur und eigenen Klangexperimenten. Lissie Rettenwan- der presst ihre Songs jedoch nicht in das enge Korsett gängiger Pop-Songs, sondern lenkt ihre Ideen in freie, improvisatorische Gewässer und lässt den Eindruck entstehen, als würde die for- male Gestalt immer erst im Moment des Erklingens entsteht. Das Prinzip schließt aber auch ein, dass die Musik bisweilen ins Stocken gerät, sich in den eigenen Fäden verhakt und manchmal abrupt endet. Liebhaber eindeutiger Genres mag die stilistische Offenheit verwirren. Lissi Rettenwander positioniert sich aber bewusst zwischen den Stühlen und möchte ihre Sounds weder in allzu eingängige Strukturen noch in szenetypische Improvisations- modelle einpassen. Die Frage ist, ob eine CD dafür das richtige Medium ist oder ob sich die künstlerische Haltung vielleicht besser live vermitteln lässt. Leopold Hurt „The desert is a place where nothing happens, where nothing has to happen“. Ein Ort also, an dem nichts stattfi nden muss? Die von Tonus-Music-Records herausgegebene CD basiert auf einem Live-Mittschnitt einer Aufführung des Tojo Theaters in Bern. Das Konzert stellte die achte und letzte Station eines Projekts da, das der Komponist Marcel Zaes mit Begehungen in der ägyptischen Sahara gestartet hatte. Die ersten zwei Sta- tionen wurden in Ägypten öffentlich aufgeführt, die anderen in verschiedenen europäischen Konzert-, Theater- und Kunsträu- men. Francesca Benetti, Theorbe, Georg Glasl, Diskantzither, Katryn Basler, Baritonvioline, Barblina Meierhans, Viola, Sab- rina Merz, Violine und Zaes selbst (Elektronik) haben an die- sem ungewöhnlichen Projekt mitgewirkt. Am Anfang stehen scheinbar beziehungslose Pizzicato-Griffen, als müsse die Art der Kommunikation unter erschwerten, von der Öde vorgegebenen Bedingungen erst entwickelt werden. Ostinate Klangbänder kommen und gehen wie Halluzinatio- nen eines musikalischen Zusammenhangs. Äußerst sparsame reale und elektronische Motive, die kaum zur Fortentwicklung taugen, kennzeichnen den Verlauf des sich in Zeitlupe entwi- ckelnden minimalistischen Materials. Klänge wie Geräusche ergänzen einander. Dabei könnten Luc Ferraris Werke der mu- sique concrète der Sechziger- und Siebzigerjahre Pate gestan- den haben, wenngleich im Unterschied zu Ferraris ungleich konkreterer Abstraktion bei Zaes stets eine ferne Konnotation kunstgewerblicher Weltmusik mitzuschwingen scheint. Zugegeben, man braucht schon Muße, um sich in einem beque- men Fauteuil zu Hause auf die Stille der nahtlos verbundenen neun Tracks dieses gut 60 Minuten dauernden Soundscapes einzulassen, was bei einer Live-Performance an einem unge- wöhnlichen Spielort leichter fallen würde. Vor dem Auge des Hörers entsteht eben gerade keine Wüstenlandschaft, wie sie in teuren Bildbänden zu Weihnachten verschenkt wird. Die Musik fordert den Hörer heraus, aus den kargen Motiven Metaphern zu assoziieren. Musik im eigentlichen Sinne entsteht hier durch das Assoziationspotential des Hörers. Dieser durchaus bemerkenswerten Hörebene gegenüber er- scheinen jedoch die weitläufi gen Entwicklungen im fünften und siebten Track fast konventionell, zu sehr an der Oase eingelöster Wüstenklischees genährt. Überhaupt schwankt die Dramaturgie zwischen notwendiger Konkretion und Ab- straktion, als fi ele es ihrem Autor schwer, von der künstler- ischen Absicht abzulassen, Landschaft als das zu begreifen, was sie bei Richard Long ist: Skulptur. Fredrik Schwenk